Meine sehr geehrten Damen und Herren,
vor 100 Jahren, am 11.November 1918, endete der 1. Weltkrieg. Man hat ihn als die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Etwa 17 Millionen Menschen verloren durch ihn ihr Leben. Seine Auswirkungen – etwa im Nahost-Konflikt – reichen bis in unsere heutige Gegenwart. Das Aufkommen und Erstarken des Nationalsozialismus war eine direkte Nachwirkung dieses Kriegs. Und dieses Nazi-Regime hat die Welt in einen noch größeren Abgrund gestürzt mit noch mehr Toten. Ihre Zahl wird auf 60 bis 70 Millionen geschätzt. Die Spaltung Deutschlands, Flucht und Vertreibung waren die direkten Folgen dieses Krieges.
Zum 80. Mal jährte sich am 09. November die Reichsprogromnacht. Sie war der Auftakt einer systematischen Verfolgung der Juden. Synagogen brannten, Geschäfte wurden geplündert, Existenzen vernichtet und schließlich in den Konzentrationslagern 6 Millionen Menschen grausam ermordet.
Der Volkstrauertag ist das Symbol der Erinnerung an diese beiden fürchterlichen Kriege mit ihren Millionen Opfern. Verdun und Stalingrad stehen als Synonym für das sinnlose Sterben auf Schlachtfeldern, Auschwitz für die Ermordung von Menschen, deren einziger Fehler es war, mit der „falschen“ Herkunft oder Religion geboren worden zu sein. In Deutschland gedenken wir seit mittlerweile fast 100 Jahren im November der Toten dieser beiden Kriege. Denn sie ermahnen uns zum Frieden.
Wir in Deutschland können uns glücklich schätzen, denn noch nie in unserer Geschichte gab es eine so lange Friedensperiode wie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges vor nunmehr 73 Jahren. Trotzdem gilt in vielen Gegenden der Welt, auch hier in Europa, Krieg immer noch als legitimes Mittel zur Durchsetzung eigener Ziele. Kriege fordern aber immer Opfer, vernichten Werte, Menschenleben, Existenzen. Nur mit großer Sorge kann man daher das Wiedererstarken nationalistischer Kräfte und Bewegungen beobachten, die die Gesellschaft innenpolitisch spalten und außenpolitisch zu Konfrontation und Destabilisierung führen.
Der Volkstrauertag ist darum auch heute noch von fundamentaler Bedeutung. Er erinnert uns alle daran, dass Frieden eben leider kein Normalzustand ist, sondern erkämpft werden muss – und zwar Tag für Tag. Wir empfinden es als selbstverständlich, im Urlaub nach Frankreich zu fahren oder einfach nur dort einzukaufen und dafür mit gemeinsamen Geld zu bezahlen. Eine Passkontrolle würden wir bereits als unnatürlich empfinden. Wer denkt dabei noch daran, dass noch unsere Groß- und Urgroßväter ebenfalls nach Frankreich fuhren – viele zum ersten und letzten Mal in ihrem Leben. Es liegt eine stille Trauer in dem Gedanken, dass sie wie ihre französischen, belgischen, englischen oder amerikanischen Altersgenossen unsere heutigen Freiheiten nie kennen lernen durften.
Und diese Trauer ist es, die den Volkstrauertag, der dem Gedenken aller Opfer aller Kriege gewidmet ist, auch heute noch so wertvoll und unverzichtbar macht. Die Erinnerungs-, Trauer- und Mahnrituale dieses Tages zeigen die friedensstiftende Kraft, die diesem Gedenktag innewohnt, ohne dass der erhobene Zeigefinger präsentiert würde. Die von vielen geäußerte Befürchtung, mit zunehmendem zeitlichem Abstand würde sich niemand mehr dafür interessieren, haben sich nicht bewahrheitet. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge hat vielmehr festgestellt, dass es neben der Kindergeneration heute vor allem die Enkel und Urenkel der Gefallenen und Vermissten sind, die nachfragen und auch selbst nachforschen. Sie geben sich nicht mehr mit der vagen Auskunft zufrieden, der Großvater oder Urgroßvater sei irgendwo in Frankreich oder Russland gefallen. Stattdessen wollen sie möglichst genau wissen, was damals passiert ist: Wo und unter welchen Umständen er gefallen, wo er begraben ist und was für ein Mensch er war. Dabei geht diese Generation wesentlich unbefangener vor, denn in der zeitlichen Distanz ist der Umgang erheblich leichter.
Mit dieser Erinnerung wird den Gefallenen und Ermordeten auch etwas sehr Wichtiges wieder zurückgegeben: ihre Würde. Denn die Umstände, unter denen sie ums Leben kamen, waren würdelos. Der heutige Volkstrauertag ist ein Tag des gemeinsamen Gedenkens, des gemeinsamen Trauerns und des gemeinsamen Mahnens. Unser gemeinsames Gedenken entreißt diese Menschen dem Vergessen, unser gemeinsames Trauern ermöglicht den Kampf für eine bessere Zukunft und das gemeinsame Mahnen gebietet uns die Toleranz des Anderen.
„Aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen“, hieß das Motto des Volksbundes zu seinem 75. Bestehen. Dieses Motto gilt auch weiterhin, denn nur eine Gemeinschaft, die ihre Toten ehrt, ist fähig, sich selbst zu achten und verantwortlich für die nachwachsenden Generationen zu handeln. Die Gräber der Toten sind Zeugen der Geschichte und rufen uns eindringlich zu: Vergesst uns nicht und tut alles, neue Gräber für neue Opfer zu verhindern!
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.