Volkstrauertag 2015

von | 15. November 2015

Rede von Michael Reinig,
stellvertretender Bürgermeister

 

„Meine sehr geehrten Damen und Herren,

vor 70 Jahren ging in Mitteleuropa der Zweite Weltkrieg nach sechs blutigen Jahren zu Ende. Über 50 Millionen Menschen fielen ihm zum Opfer, es war die schlimmste Katastrophe der Neuzeit.

Seit dem Jahre 1919 begehen wir in Deutschland den Volkstrauertag, mit dem zunächst der Millionen gefallener Soldaten des Ersten Weltkrieges gedacht wurde. Er war als Zeichen der Solidarität derer, die keinen Verlust zu beklagen hatten, mit denen gedacht, die um ihre Angehörigen trauerten. Der Gedanke von Versöhnung und Verständigung sollte im Mittelpunkt stehen. Die Nationalsozialisten pervertierten ihn später zum „Heldengedenktag“ und bereiteten auch mit seiner Hilfe den nächsten Krieg vor.

Ihrer Schreckensherrschaft und ihrem Rassenwahn fielen zwischen 1933 und 1945 in Deutschland und Europa Millionen Menschen zum Opfer. Ihre Bilanz waren Tod und Zerstörung; die Infrastruktur vieler Länder war auf Jahre hinaus vernichtet. Deutschland war in Besatzungszonen aufgeteilt, eine eigene staatliche Souveränität gab es nicht mehr. Die Überlebenden hungerten und froren in den Trümmern und warteten auf Nachrichten ihrer vermissten Angehörigen.

Hunderttausende flohen im Winter 1944/45 aus den deutschen Ostgebieten vor der heranrückenden Roten Armee nach Westen. Noch während des Krieges begann die gewaltsame Vertreibung deutscher Minderheiten aus Ost-, Mittel- und Südosteuropa.
Etwa zwölf Millionen Deutsche waren auf der Suche nach einer neuen Heimat. Wie viele Menschen in den chaotischen Ereignissen starben, ist bis heute unklar. Schätzungen schwanken zwischen 400.000 und bis zu zwei Millionen Opfern.

Ein kleiner Handwagen, ein Rucksack und ein Holzkoffer mit wenigen Habseligkeiten waren häufig der ganze Besitz von Flüchtlingen und Vertriebenen. Hunger, Kälte und Krankheiten begleiteten ihre wochen- und monatelange Flucht. Viele Familien wurden auseinandergerissen und waren auf der Suche nach ihren Angehörigen.

Die alliierten Militärregierungen brachten Flüchtlinge und Vertriebene in Lagern, Notquartieren oder bei Privatfamilien unter. Nicht selten gab es Schwierigkeiten im Zusammenleben zwischen Einheimischen und Vertriebenen.

1950 lebten 8 Millionen Flüchtlinge in der Bundesrepublik und 4 Millionen in der DDR. Allein in Schleswig-Holstein stieg die Bevölkerungszahl um 33 Prozent, in Mecklenburg-Vorpommern um 44,3 Prozent.

Erst nach und nach kam das staatliche Leben wieder in Gang, ordneten sich die Verhältnisse. Dies nicht zuletzt dank der großzügigen Unterstützung und Hilfe der US-Amerikaner durch den Marshall-Plan, die damit eine gelebte Solidarität im Sinne unseres Volkstrauertages an den Tag legten.

Man stand damals nicht nur vor der gewaltigen Aufgabe, die Infrastruktur eines völlig zerstörten Landes neu zu aufzubauen und wirtschaftlich wieder auf die Beine zu kommen, sondern man musste auch die vielen Flüchtlinge und Heimatvertriebenen in die Gesellschaft eingliedern. Darüber hinaus galt es, das verloren gegangene Vertrauen der Nachbarländer in Deutschland wieder zu gewinnen. Die Pariser Verträge mit Frankreich, die die deutsch-französische Freundschaft begründeten, waren hierzu ein erster Meilenstein.

1952 wurde der Volkstrauertag wieder zum Tag der nationalen Trauer und erinnerte nun an alle Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Viele Menschen haben in den vergangenen Jahren den Volkstrauertag verdrängt, die ihn berührenden Ereignisse liegen weit in der Vergangenheit, sie berühren nicht mehr direkt oder persönlich. Kriege finden woanders statt, im Nahen Osten oder in Afrika, man sieht sie allenfalls in den Abendnachrichten.

Das Jahr 2015 hat diese Kriege nun auch für uns wieder unmittelbar erlebbar gemacht. Unfassbar sind für uns die Nachrichten, die uns gestern aus Frankreich erreichten. 129 Menschen verloren in Paris durch einen Akt sinnloser Gewalt ihr Leben. Unsere Trauer gilt den Ermordeten, unser Mitgefühl den Hinterbliebenen. Zusammen mit unseren französischen Freunden sind wir ratlos und schockiert ob dieses Ausmaßes an selbst zerstörerischem Terror. Eines Terrors, der sich nicht nur gegen uns sondern in noch viel stärkerem Maße gegen das eigene Volk richtet. Hunderttausende sind davor bereits geflohen und stehen heute hilfesuchend vor unserer Haustür stehen.

An einem Tag wie diesem kann es nicht um die Frage gehen, wie die damit verbundenen Herausforderungen zu schaffen sind. Für uns geht es heute vielmehr darum, dass wir es seit langem wieder einmal selbst hautnah erleben, wofür der Volkstrauertag steht: Für die Solidarität mit den Opfern von Gewalt und Verfolgung in Vergangenheit und Gegenwart.

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. Aus den Erfahrungen der Vergangenheit schrieben die Väter des Grundgesetzes diese drei Sätze den Deutschen 1949 ins Stammbuch. Sie haben uns damals eine Verpflichtung mit auf den Weg gegeben, die es heute für uns gilt einzulösen.

Wir können die unselige Vergangenheit unseres Volkes nicht auslöschen, aber wir können uns heute den Herausforderungen stellen, die uns unsere Zeit auferlegt. Was vor 70 Jahren ein völlig am Boden liegendes Land geschafft hat, den Fremden eine Bleibe und ein Zuhause zu geben, das muss auch heute in einem Land möglich sein, in dem der Wohlstand blüht.

Mit dem Fall der Mauer und dem Untergang des Kommunismus vor 25 Jahren haben sich Freiheit und Demokratie auf unserem Kontinent weitgehend durchgesetzt. Der europäische Integrationsprozess, so mühsam und schleppend er manchmal auch ist, hat sich bisher als Garant der Stabilität erwiesen.

Lassen wir von diesem guten Weg weder durch Euroskeptiker noch durch rechte oder islamistische Terroristen abbringen.

Spannungen und kriegerische Auseinandersetzungen werden wir nicht aus der Welt schaffen können, so wünschenswert das auch wäre. Unsere Aufgabe ist es aber, uns hier in unserem Land Fremdenfeindlichkeit und Akten sinnloser Gewalt entgegen stellen und allen Menschen die gleiche Würde und Toleranz entgegen bringen, die wir auch für uns selber einfordern.

Unsere demokratischen Freiheitsrechte für alle Mitmenschen und gegen alle Widerstände durchzusetzen, das ist die Sache um die es heute geht, das ist die Aufgabe, der wir uns heute stellen müssen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.“

 

Author: Michael Reinig